12.04 Trolley-Fälle

12 Digital Ethics

Die sogenannten «Trolley-Fälle» (amerik. «trolley» u.a. für Strassenbahn, Tram) sind ein ideales Bindeglied zwischen den wichtigen Theorien der Ethik (Kapitel 12.02) und den konkreten Anwendungsfällen der Ethik in der digitalen Welt (insb. Kapitel 12.05 Moral Machine und Kapitel 12.C Cases), um die mögliche Anwendung ersterer auf konkrete, aber universale Fälle von Dilemmata zu zeigen. Eine Warnung für «Zartbesaitete»: nachfolgende Fälle kommen relativ unscheinbar daher, sind aber in ihrer Konsequenz teilweise sehr brutal!

Entwickelt wurden die Trolley-Fälle von den Philosophinnen und Philosophen Philippa Foot (1920 – 2010), Judith Jarvis Thomson (1929 – 2020) und Thomas Scanlon (*1940).

Die Philosophinnen und Philosophen stellen insbesondere die sogenannten «positive Pflichten» (Pflicht, etwas zu tun), den sogenannten «negativen Pflichten» (Pflicht, etwas nicht zu tun, etwas zu unterlassen) gegenüber.

Medikamenten-Fall

Sechs Personen sind schwer erkrankt. Sie müssen sterben, wenn sie nicht ein bestimmtes Medikament erhalten. Uns steht eine volle Dosis des Medikaments zur Verfügung. Eine der Personen würde diese volle Dosis benötigen, um zu gesunden. Die anderen fünf Personen benötigen jeweils nur ein Fünftel der Dosis.

Transplantation-Fall

Fünf Personen sind schwer erkrankt und drohen, an Organversagen zu sterben. Eine sechste Person ist gesund. Aber wir wissen, dass sie ein geeigneter Organspender für die fünf anderen wäre. Wir können sie töten und mit ihrem Herz, ihren Nieren und Lungen die fünf anderen Personen retten.

Die Dilemmata des Medikamenten- und des Transplantation-Falles zeigen, dass die Verletzung der negativen Pflicht, jemanden nicht zu töten (Transplantation-Fall) schwerer wiegt, als die Verletzung der positiven Pflicht zur Hilfeleistung (Medikamenten-Fall).

Trolley-Fall «Fahrer»

Wir fahren eine Strassenbahn bzw. einen Trolley, die ausser Kontrolle gerät und nicht zu bremsen ist. Auf dem Gleis vor uns befinden sich fünf Personen, die nicht ausweichen können. Unternehmen wir nichts, töten wir die fünf. Wir können den Trolley auf ein Nebengleis lenken. Auf dem Nebengleis befindet sich eine Person, die wir töten würden. Egal, was wir entscheiden, wir werden immer entweder eine negative Pflicht (nicht töten), oder eine positive Pflicht (Hilfeleistung) verletzen. Es gibt jedoch eine Tendenz zur Minimierung der Pflichtverletzungen. Dies führt wohl zur Umleitung auf eine einzelne Person, da dies zu weniger Verlust von Menschenleben führt.

Trolley-Fall «Weiche»

Ein Trolley ist ausser Kontrolle und nicht zu bremsen. Der Fahrer ist ausser Gefecht gesetzt. Wir sind nicht im Trolley, sondern stehen ausserhalb, neben einer Weiche. Auf dem Gleis vor dem Trolley befinden sich fünf Personen, die nicht ausweichen können. Unternehmen wir nichts, müssen die fünf sterben. Betätigen wir die Weiche, können wir den Wagen auf ein Nebengleis lenken. Auf dem Nebengleis befindet sich eine Person, die wir töten würden. Die Mehrheit würde wohl die Weiche betätigen und damit aktiv die einzelne Person töten. Mit diesem Verhalten wird dem Bruch einer negativen Pflicht (nicht töten) gegenüber einer positiven Pflicht (Hilfeleistung) den Vorzug gegeben. Dies entspricht der Theorie des Konsequentialismus. Der Schaden der grösseren Gruppe hat grösseres Gewicht.

Trolley-Fall «Brücke»

Ein Trolley ist ausser Kontrolle und nicht zu bremsen. Der Fahrer ist ausser Gefecht gesetzt. Auf dem Gleis befinden sich fünf Personen, die nicht ausweichen können. Unternehmen wir nichts, müssen die fünf sterben. Wir stehen auf einer Brücke. Neben uns steht eine sehr schwere Person. Wenn wir sie auf das Gleis werfen, würde sie sterben, aber ihr Körper wäre – anders als unser Körper – schwer genug, um den Trolley zu bremsen und die fünf zu retten. In diesem Fall würde sich wohl die Mehrheit weigern, die schwere Person auf das Geleise zu werfen. Sie würde den Vorzug der Verletzung einer positiven Pflicht (Hilfeleistung), gegenüber der Verletzung einer negativen Pflicht (nicht töten; hier sogar aktive Tötung) geben. Inwiefern unterscheidet sich dieser Fall «Brücke» vom vorangehenden Fall «Weiche»? Das vermutliche Verhalten der Mehrheit entspricht nicht der Theorie des Konsequentialismus. Beim Verhalten in diesem Fall hat der Schaden der grösseren Gruppe ein kleineres Gewicht. M.E. ist in diesem Fall aber wohl auch psychologisch von Bedeutung, dass das Töten eben aktiv und unmittelbar passieren würde (Herunterstossen und nicht «nur» von weitem Weiche stellen).

Medikament/Transplantation-Fall (Thomas Scanlon)

Thomas Scanlon (s. vorne) hat den vorangehenden Medikamenten- und den Transplantation-Fall in einem neuen Fall kombiniert. In diesem Fall sind sechs Personen schwer erkrankt und müssen sterben, wenn wir nicht helfen. Eine der Personen benötigt ein bestimmtes Medikament. Uns steht eine ausreichende Dosis zur Verfügung. Verabreichen wir das Medikament aber nicht, so stehen die Organe der Person als Spenderorgane zur Verfügung. Wir können mit ihrem Herz, ihren Nieren und Lungen die fünf anderen retten. In diesem Fall geht es um die Lehre von der Doppelwirkung. Diese besagt, dass, wenn eine Handlung positive und negative Konsequenzen hat, und wenn die negativen Konsequenzen nicht vermeidbar sind, und wenn die guten Konsequenzen im Vergleich zu den negativen Konsequenzen hinreichend gut ausfallen, gilt: a) Wenn die Handlung um der positiven Konsequenzen willen vollzogen wird, die negativen Konsequenzen hingegen bloss in Kauf genommen (weder als Mittel noch als Ziel beabsichtigt) werden, so ist die Handlung zulässig, und b) Wenn die negativen Konsequenzen als Mittel oder Zweck beabsichtigt werden, ist die Handlung unzulässig. Letzteres ist vorliegend der Fall!

Trolley-Fall «Loop»

Wir sehen einen Trolley, der ausser Kontrolle und nicht zu bremsen ist. Der Fahrer ist ausser Gefecht gesetzt. Auf dem Gleis befinden sich fünf Personen, die nicht ausweichen können. Unternehmen wir nichts, müssen die fünf sterben. Wir stehen neben einer Weiche, mit der wir den Wagen auf ein Nebengleis lenken können. Auf dem Nebengleis befindet sich eine Person, die wir töten würden. Diese eine Person würde den Wagen beim Zusammenstoss bremsen. Wenn sie sich nicht dort befinden würde, so würde der Trolley über eine Kurve zurückgelenkt auf die fünf Personen, die dann getötet würden. Wenn wir in diesem Falle den Trolley umleiten, so tun wir das zwar nur deswegen, weil dann der Zusammenstoss mit der einen Person erfolgt, aber daraus folgt nicht, dass wir es tun, damit derselbe erfolgt. Der Tod der einen Person ist in diesem Fall – etwas brutal gesagt – ein Kollateralschaden.


Quelle und Literaturempfehlung: Tim Henning, Allgemeine Ethik, UTB Verlag, 2019

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